NATTEFROST

Terrorist - Nekronaut Part I (CD/LP 2005)

Cover LP

Das Blattgold auf dem schwarzen Metallschild blitzte königlich, wenn man von unten darauf schaute, und tat fast in den Augen weh. Nattefrost musste auf das Verdeck des vor dem Treppenaufgang geparkten BMW Z3 klettern und sich auf die Zehenspitzen stellen, um die Schrift lesen zu können. "Oslo Rockstar Academy, Inh. Sigurd Wongraven". Hier also residierte das Vorbild aller arbeitslosen Musiker, verkappten Schürzenjäger und Profilneurotiker. Hier hielt er seine weltberühmten Seminare ab. Und er, Nattefrost, war einer der fünf Auserwählten, die an dem eintägigen Intensivkurs teilnehmen durften. Sieben ganze Jahre hatte es gedauert, bis man ihn aufgenommen hatte. "Eigentlich gar nicht so lange", sinnierte Nattefrost, "wenn man bedenkt, dass Wongraven ja nur einen Tag pro Jahr in seinem Sommerpalast residiert und ansonsten in einer Berghütte auf Grönland lebt." Ein halbes Dutzend Platten hatte Nattefrost seit seinem Entschluss, diesen Kurs belegen zu wollen, aufgenommen und für teures Geld verkauft. Das alles nur, damit er sich eines Tages diesen Lehrgang würde leisten können. 25.000 Dollar, das erschien auf den ersten Blick viel Geld - war es aber nicht, denn der Erfolg war ja garantiert. 
Bei dem Gedanken, dass in einiger Zeit all die geilen Frauen auf den großen Konzerten ihn auf ihren Schößen würden sitzen lassen, regte sich etwas in Nattefrosts Biene-Maja-Schlüpfer. Er musste sich zwingen, den Gedanken zu verdrängen und die Treppenstufen zum Eingang hinaufzuklettern. Es war fünf vor zwölf, gleich würde das Seminar beginnen.

"Mein Name ist Nattefrost, ich habe einen Termin bei Herrn Wongraven!". Die Empfangsdame war nackt und hatte eine Schlange um den Hals gelegt. Das allerdings konnte Nattefrost nicht sehen, denn er reichte mit der Nase nicht ganz bis an den Tresen. "Gehen Sie bitte diesen Flur entlang, Herr Nattefrost, hinter der letzten Tür am Ende finden Sie den Seminarraum", hauchte die blonde Frau und rückte sich ihr Namensschild zurecht. "Sagen Sie dem Pförtner, Monika Bråten habe Sie geschickt, dann wird er Sie einlassen."
Am Ende des Flurs musste Nattefrost dem Pförtner auf den Fuß springen, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Der große, hagere Mann half ihm die letzte Stufe bis zum Veranstaltungsraum empor und wies ihn an, vorerst in der Spielecke Platz zu nehmen. Während er versuchte, mit bunten Duplosteinen ein Schloss zu bauen, besah er sich den Seminarraum ein wenig näher.
Im Zimmer verteilt standen fünf Sitzgelegenheiten für Erwachsene, vier davon waren besetzt. Auf einer massiven Stahlgartenbank saß ein feister, speckiger Mann von vielleicht Anfang 30, dessen gigantische Arschbacken an beiden Seiten der Bank überhingen. In der einen Hand hielt er eine prall gefüllte McDonald's-Tüte, in der anderen einen Cheeseburger. Kauend murmelte er mit amerikanischem Akzent fortwährend etwas wie "fuck you all you don't know what black metal is coz you're much too young you fuckers" in sein Doppelkinn und schmiss alle paar Minuten eine Bierflasche an die gegenüberliegende Wand, wobei die Streben der Bank bedenklich knarzten. 
Auf dem Stuhl daneben thronte ein Mann, der eine Sonnenbrille und ein mit einer Rasierklinge bedrucktes T-Shirt trug. In unregelmäßigen Abständen zog er eine Handfeuerwaffe und bedrohte fauchend eine HiFi-Anlage, die neben ihm stand. "I WANT YOU DEAD!", zischte er, aber die Anlage blieb still und antwortete nicht.
Auf der anderen Seite des Raumes kauerte schüchtern auf einem rosafarbenen Cocktailsessel ein Geschöpf mit dem dümmlichsten Ponyschnitt, den Nattefrost jemals gesehen hatte. Davon abgesehen hatte die Frau, soweit er das durch seine Playboy-Lektüre einschätzen konnte, einen göttlichen Knackarsch, feine Gesichtszüge und schwarz gefärbte Haare bis kurz vor die Kniekehlen. Einen kurzen Wimpernschlag lang spielte er mit dem Gedanken, das Wesen anzusprechen, traute sich dann aber nicht. 
Im selben Moment sprang hinter einem riesigen Schreibtisch aus massivem Platin ein greisenhafter Derwisch mit einer Tarnhose hervor, der abscheulich stank und seine dürren Ärmchen hinter dem Kopf bis auf den Rücken verschränkt hatte. Er rannte wie ein Irrer durch den Raum, öffnete eine schmale Tür neben dem Fenster (offenbar die Tür zur Hauswirtschaftskammer) und holte einen Hexenbesen heraus, mit dem er wie wild um sich schlug und sogar einige Pokale und Medaillen von einem Regal fegte. Wäre nicht just in dieser Sekunde Sigurd Wongraven majestätisch durch die Tür geschritten, hätte Nattefrost um seine Milchzähne gefürchtet. Der Tarnhosenmann lies sich jedoch nicht beirren, schleuderte den Besen von sich und - Nattefrost traute seinen Augen nicht - zog sich die Hosen runter. Er rannte auf Wongraven zu und wollte ihn mit seinem Gemächt bedrängen, Wongraven jedoch reagierte gewohnt kühl, wich einen Schritt zurück und pfefferte den Greis mit einem gezielten Schlag in den vorletzten freien Stuhl, wo er kleinlaut zusammensank. Wongraven selbst nahm auf einem hölzernen Thron hinter dem Schreibtisch platz.

"Willkommen zu unserem Lehrgang, verehrte Herren Musiker", sagte Wongraven mit sonorer Stimme. "Wenn Sie heute aus diesen Hallen schreiten, werden Sie nicht mehr dieselben sein. Ich werde Sie lehren, was Rockstartum bedeutet, wie Sie der Welt da draußen musikalisch weis machen können, Sie seien einer und vor allem: wie Sie sich dumm und dämlich damit verdienen werden." Sein Blick fiel auf das zarte Wesen im Cocktailsessel. "Frost, du Idiot, was willst du hier? Ich hab' dir schon tausend mal gesagt, dass ich dich hier nicht mehr sehen will, du hast deinen Abschluss bereits!" Schüchtern und mit piepsiger Stimme entgegnete Frost: "Aber bitte bitte, Satyr, nur noch dies eine Mal. Heute ist doch ‚tasteless music for tasteless people' dran, das hatte ich noch nie. Bitte bitte! Es ist doch auch ein Platz frei, Maniac hat doch abgesagt, weil heute die Einschulung seiner Tochter ist. Bitte!" Nattefrost befürchtete gleich zu Beginn der Veranstaltung ein Donnerwetter, Wongraven aber blieb gelassen, zog eine Augenbraue hoch und sagte leise, kaum hörbar, aber mit einem eitlen Zucken in den Mundwinkeln: "Meinetwegen. Aber nenn' mich nicht Satyr."

In den kommenden 4 Stunden hielt Wongraven einen fesselnden Vortrag über geschmacklose Musik, geschmacklose Texte und abartige Ideen. Er betonte, dass er selbst niemals Anhänger dieser Geschmacklosigkeiten gewesen, es seinen Schülern allerdings schuldig sei, sie über den leichtesten Weg zum Rockstartum in Kenntnis zu setzen. Nattefrost hatte seinen Buntstiftkasten dabei und malte fleißig Notizen auf die bereitliegenden Zettel. Schon nach zwei Stunden hatte er gut zwei Seiten Stichpunkte, wie beispielsweise "Kotzen", "Pissen", "Kinderporno", "Frauen sind Fotzen", "Musik muss schlecht sein", "wenn Gesang, dann am besten verzerren", "Punk ist nicht so schlecht wie man immer sagt" und "anmaßende oder gar keine Songtitel". So allmählich formte sich in seinem Hirn eine Ahnung davon, was Wongraven mit seinem Vortrag sagen wollte: wenn man ein Rockstar sein will, muss man alles verachten, was andere mögen, man muss die Hosen runterlassen, und vor allem: man muss lernen, anständig zu pöbeln und immer schlecht zu riechen. Das würde ihm schwer fallen, denn früher war er einmal ein durchaus ernstzunehmender Musiker und ein smarter Kerl, er hatte sogar einen guten Freund und Kameraden (er hieß Nordavind). Nordavind hatte sich von ihm losgesagt, als Nattefrost ihm eines Winters eröffnet hatte, dass er nur noch Musik machen wollte, um später Rockstar werden zu können. Ja, den Stolz und den Respekt vor sich selbst oder vor ernstzunehmender Musik musste er nun ablegen, fiele es ihm auch noch so schwer. Die Affen, die seine künftigen Produkte kaufen würden und die ganzen Schlampen auf seinen Konzerten... ja, die würden ihm die Entscheidung schon leicht machen.

Am Ende des Seminars fragte Wongraven die Teilnehmer, was sie aus seinem Vortrag an persönlichem Gewinn mitnehmen würden und ob sie bereits Entscheidungen für ihr künftiges Leben getroffen hätten. Der speckige Ami antwortete zuerst, indem er sich einen McRib in den Rachen schob, sich eine Zigarette anzündete und "fuck you, you're too young to tell me what rockstarism is!" sprotzte. Dann nahm er eine weitere Flasche Bier, trank einen Schluck und pfefferte sie gegen die Tür zur Besenkammer. Als nächstes war der Schusswaffenbesitzer mit der Sonnenbrille an der Reihe. Mit kühler, ruhiger Stimme verkündete er: "Ich werde eine neue Band gründen. Sie wird schmutzig sein, wir werden schlechte Musik machen und uns Scum nennen. Der Name ist Programm. Es wird cool. Das ist zwar eigentlich nicht mein Geschmack, aber ich brauche die Anerkennung und das Geld." Seine Gesichtszügen verrieten keine Regung, er stand auf und verließ schweigend den Raum.
Der Tarnhosengreis schaute ihm nach und verkündete lauthals: "Satan is klasse!", rülpste eine abgestandene Alkoholfahne und fiel daraufhin vom Stuhl. Wongraven bedachte ihn mit einem oberflächlich verächtlichen Blick, in dem jedoch etwas wie Bewunderung mitschwang, schüttelte den Kopf und brummte: "Hm, der macht doch alles richtig, was wollte der eigentlich hier?!". Er rief über das Haustelefon Monika Bråten an und befahl ihr, ein Taxi nach Bergen für den Herrn in der Tarnhose zu bestellen. 
Dann ruhte sein Blick auf Nattefrost. "Na, mein Kleiner, und was hast du dir so vorgenommen?" Nattefrost musste schlucken. Er wusste genau was er tun wollte, aber er hatte Angst davor, dass Wongraven ihn auslachen würde. "Wissen Sie... ich... ich habe schon ein paar CDs aufgenommen, und da ist noch ein bisschen übrig. Ich... äh... ich... also ich... zu Hause hab' ich noch ein paar Lieder, die ich mal in meinem Kinderzimmer aufgenommen habe, aber die sind nicht so doll gespielt, und außerdem ziemlich kurz und... na ja... punkig. Und richtige Titel hab' ich auch noch keine, nur sowas wie ‚Preteen deathfuck' und ‚Track09'. Neulich hab' ich mal verdorbenes Bier getrunken und musste kotzen, das hab' ich auch einfach mal aufgenommen, weil mir nichts mehr einfiel. Ist aber zusammen nur 'ne knappe halbe Stunde. Was meinen Sie?" Wongraven wirkte geistesabwesend. Seine Denkerstirn legte sich in Falten. Dann legte er sich wichtigtuerisch den Zeigefinger auf die Lippen. "Hm, das klingt doch schon gar nicht schlecht, mein Junge! Da nimmst du noch mal auf wie du Pippi machst, und vielleicht noch eine Viertelstunde aus dem Radio oder so, das müsste reichen. Wie heißt du noch mal?" "Nattefrost." "Und was möchtest du gerne werden, wenn du groß bist?" Nattefrost machte sich vor Angst fast in die Hosen. Aber was half es, er musste die Wahrheit sagen, Wongraven würde ohnehin merken, wenn er lügen würde. "Terrorist würde ich gerne werden." "Prima!", lobte Wongraven. "Dann nenn' das alles doch einfach 'Nattefrost', und das Album 'Terrorist', was hältst du davon?" Nattefrost traute seinen Ohren nicht. Die Idee war wirklich gut, wie man es von Wongraven gewöhnt war. Er grinste über beide Ohren und warf Frost einen verstohlenen Blick zu, den dieser ermutigend erwiderte. "Meinen Sie wirklich, damit könnte ich Rockstar werden?" Wongraven kicherte hämisch, beugte sich in seinem Thron vor und fixierte Nattefrost mit Augen, in denen Dollarnoten zu blitzen schienen. "Ja, mein Sohn, das meine ich. Wenn DAS nicht erfolgreich wird, dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Etwas derart Bescheuertes hab' ich noch nie gehört, das MUSS einfach klappen!" 

2/10

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alboin
21.07.2005


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