SÓLSTAFIR

Masterpiece Of Bitterness (CD 2005)


Wir müssen den Tatsachen ins Auge blicken: Bilderbuch-BM ist nicht gerade das beliebteste Metier unter den multitaskfähigen Komponisten diesseits des Metal-Äthers. So drifteten zum Beispiel die zeitlos genialen In The Woods... nach gerade mal zwei Alben in progressivere Sphären ab, ohne jedoch an Identität oder Glaubwürdigkeit zu verlieren, was eine verdammt seltene Erscheinung darstellt. Sólstafir könnten in einigen Jahren ebenfalls gar keinen Metal mehr machen, wenn man die Entwicklung zwischen dem Debüt und dem hiesigen Longrunner in Augenschein nimmt.
Es wäre für die Isländer ein Leichtes gewesen, sich kompositorisch am superben Vorgänger zu orientieren, den noch heute so mancher Qualitätsbewusste auflegt. Das Quartett entschied sich aber für den musikalisch bedeutenderen Weg der Evolution, was sie nun endgültig als Künstler im eigentlichen Sinne qualifiziert. Sicher, eine Fortsetzung des ersten Schlags wäre ein interessantes Hörunterfangen gewesen, für die Gruppe selbst stellte dies angesichts ihres erwachseneren Seins keine Herausforderung mehr dar. Wütende, kleine Bomben à la "Tormentor" blieben aus, stattdessen schwelgen Sólstafir in Erinnerungen, nehmen eine Handvoll Soundcollagen und spielen in stets gemäßigten Tempi dahin. Zeitweise schlägt der Schlagzeuger einen etwas schnelleren Takt an, vom Träumen lässt man jedoch nicht ab - atmosphärisch ein wahr gewordener Wahnsinn. Geradezu majestätisch schreiten die Recken voran, dringen immer tiefer ins Bewusstsein ein, bringen alles zum Schweigen, animieren den Hörer zu philosophischen Höchstleistungen, ertränken ihn ebenfalls in vergangenen Szenerien. Im Gegensatz zu den manisch-depressiven Kommandos wird jedoch nicht so tief in alten Wunden gebohrt, dass der Griff zur Schrotflinte unabwendbar scheint, dafür sind die Nordlichter viel zu sehr darauf erpicht, eine möglichst lebende Anhängerschar zu haben. Die ersten sechs Lieder, denen ich mich im weiteren Verlauf widmen werde, zeichnen anhand von hallenden Gitarrenwänden, einem gekonnt knurrenden Bass sowie dem klagenden Singorgan Aðalbjörn melancholische, erhabene Klanglandschaften voller Schönheit, kleine, stimmungsfördernde Experimente mit inbegriffen. Das siebente könnte genausogut als moderne Cowboy-Hymne durchgehen, deren aufmunternder, zum Mitwippen einladender Aufbau nach all den schwermütigen Monumentalwerken fast schon gut tut.
Diese Werke wurden über Jahre hinweg komponiert, verfeinert und erlangten in der Schublade ihre vollkommene Reife. Dass dieser Prozess zum gewünschten Erfolg führt, bewiesen unter anderem Lunar Aurora mit ihren ewigen Klassikern "Elixir Of Sorrow" und "Zyklus". Sobald die Anlage rennt, reißt hoher Frauengesang den Hörer aus dem Alltag, gefolgt vom wummernden Saitenensemble. Der Opener beginnt relativ flott, mündet jedoch wenig später in eine der besten Schleichpassagen des letzten Jahres. Bis auf einige Rhythmusänderungen verbleibt der Vierer in jenem Songteil, kurz vor Schluss werden alle angesammelten Reserven für das rasante Finale rausgeholt. "Nature Strutter" wurde sehr abwechslungsreich gestaltet, mal schnell, mal weniger am Gaspedal hängend hält man den Hörer bei Laune. Um dabei den Faden nicht vorzeitig zu verlieren, wurden gewisse Parts nochmal verwendet, diese dann allerdings in einem etwas anderen Gewand präsentiert. Egal ob verlängert, mit Soli bestückt oder sonstwie umgeschrieben - bloße Kopieraktionen sind offensichtlich ein bandinternes Tabu.
"Bloodsoaked Velvet", zweitkürzester Beitrag auf "Masterpiece Of Bitterness", lebt vom schädelspaltenden, thrashigen Riffgut, durchgeatmet wird erst im nächsten Kapitel namens "Ljósfari", dessen gemächlicher Schritt im Mittelteil zur Höchstform aufläuft, wo sowohl die Saiteninstrumente als auch der Sänger klagende Töne anschlagen, zum Ende hin werden die elektrifizierten Stimmen so wehmütig, dass es fast wehtut... und dennoch will keiner von den Jungs für tote Fans verantwortlich gemacht werden und so erhöhen sie das Stimmungsbarometer anhand von etwas verspielten Gitarrenquetschereien. Vom unendlich Traurigen ins wesentlich Aggressivere: "Ghosts Of Light" haut am stärksten von allen Liedern hin, selbst der Fronter schreit sich die Seele aus dem Leib. Erst als das Feuerritual naht, weicht der Hass dem ruhigen, emotional ausgeglichenen Element. Geprägt ist jenes durch gitarreskes Geklimper, welches nahtlos in den anschließenden Vierzehnminütler übergeht. "Ritual Of Fire" wird mit zunehmender Spielzeit immer hektischer, bleibt schließlich im tight gespielten Midtempo hängen und schmeißt abermals mit klagenden beziehungsweise nachdenklichen Arrangements um sich - die ideale Ausgangsbasis für den unerwartet gut gelaunten, klischeefreien Rausschmeißer "Náttfari".
Es erscheint einleuchtend: Alle paar Jahre kommen Sólstafir mit einem neuen Langeisen daher, das den Rest der zeitgleich erschienenen Alben mühelos wegpustet, geben ein paar Konzerte in auserwählten Spelunken und verschwinden wieder für einige Jahre, um am nächsten Machtwerk zu feilen. Manche bezeichnen diese Arbeitsweise als sehr gemütlich, kommen doch andere Bands einmal jährlich in den Promotionzirkus und lassen ihre neuesten Errungenschaften vermarkten. Man kann aber die Isländer nicht mit den eben genannten "anderen" vergleichen, da sie nicht vergleichbar sind. Keine andere Formation definiert sich Album für Album neu oder eröffnet den wenigen Anhängern neue musikalische Horizonte, die keinesfalls aufgesetzt wirken. "Masterpiece Of Bitterness" ist einhundert Prozent Sólstafir, so unverfälscht und ehrlich klang kaum ein anderes Werk aus dem letzten Jahr. Und jetzt dürft ihr raten, was ich euch die ganze Zeit vermitteln will...

10 /10

Official Website

Spikefarm Records

 

Amicus
05.02.2006


Redaktionsbewertung:
azaghal 6 Erik 10
Amicus 10 Frostkrieg 9.5
Gesamtdurchschnitt: 8.9